Das Yppen- oder Brunnenviertel im Wiener Bezirk Ottakring ist seit Jahren einer „schleichenden“ Gentrifizierung oder „Aufwertung“, wie es in der schönfärberischen Begriffswelt der Stadtverwaltung heißt, ausgesetzt. Zinshäuser werden leergekündigt, sofern sie nicht schon seit Jahren leer standen, „saniert“ oder gleich abgerissen, Dachböden ausgebaut und vor allem Eigentumswohnungen inkl. „Vorsorgewohnungen“ errichtet. Gleichzeitig steigen die Mieten für Wohnungen und Geschäftslokale, das Gastronomieangebot wird auch deshalb exquisiter und teurer, und insgesamt passt sich die lokale Infrastruktur der höheren Kaufkraft der Zuziehenden und der sich ebenso wandelnden „Laufkundschaft“ an.
Das Viertel wird also „boboisiert“, abgeleitet von „Bobos“ für „bourgeois bohémiens“ (daher der Titel dieses Blogs: going bobo). Voraussetzung und Begleiterscheinung ist jedoch, dass weniger begüterte/kreditwürdige Menschen verdrängt werden und/oder keine Chance mehr haben, hier eine Wohnung zu „ergattern“.
Drei Faktoren sind dafür hauptverantwortlich: 1) Die für Wien außergewöhnlichen Preissteigerungen bei Zinshäusern und Eigentumswohnungen in den letzten Jahren, zum Teil eine Auswirkung der weltweiten Finanzkrise und des historisch niedrigen Zinsniveaus (siehe die Grafiken links aus einer Publikation der Arbeiterkammer, 2014 bzw. meine Beiträge unter backgrounds)
2) der generelle Mangel an verfügbarem Wohnraum in Wien und, eine lokale Besonderheit,
3) die vergleichsweise massiven Investitionen des Bezirks/der Gemeinde, die zig-Millionen an Steuergeldern in die Aufwertung stecken, während dieselben AkteurInnen nach wie vor dabei versagen, leistbare Wohnungen für die steigende Zahl der einkommensschwächeren Menschen in der Stadt bereitzustellen.
Ermöglicht und gefördert wird der Prozess durch das seit vielen Jahren gelockerte Mietrecht (u.a. befristete Mietverträge) – der Anteil der „nomadisierenden“ MieterInnen im Viertel, die bei Bedarf „geräuschlos“ entfernt werden können, wird immer höher. In meinem eigenen Haus liegt der Anteil bereits weit über 50%.
Zusammen bedeutet das: Freie Bahn für die Maximierung der (arbeitslosen) Einkommen aus Grund- und Hauseigentum, gebremst allein durch den noch bestehenden Schutz unbefristeter Hauptmietverträge (Wohnungen), und von Demokratie bleibt keine Spur. Es herrschen quasi neoliberale Verhältnisse, notdürftig verdeckt durch ein paar gemeinnützige Feigenblätter von Gnaden der Stadtverwaltung.
Die Gentrifizierung ist offenbar nicht aufzuhalten (siehe Warum die Gentrifizierung voranschreiten wird). Aber man kann sie kritisieren, dokumentieren und auch dagegen protestieren wie die selbst betroffene Kunstinitiative mo.ë in der Thelemangasse 4, die Ende Mai das Handtuch werfen musste – einer der Hauptgründe: Zu wenig Geld, um das Gerichtsverfahren weiterzuführen.
So viel zum „Künstlerviertel“, ein Verkaufsargument, das bis zum Überdruss in den Werbetexten der Immobilienbranche für ihre lokalen Projekte wiederholt wird.
Was will ich mit diesem Weblog? Mehreres. Ich will meinen Unmut über die verfehlte Politik der Gemeinde im Allgemeinen äußern, denn vergleichbare Entwicklungen finden in vielen Wiener Vierteln statt. Ich will den Prozess mit meinen beschränkten Ressourcen dokumentieren, mit Texten, Fotos und Videos. Und ich will anderen die Gelegenheit bieten, sich hier zu äußern – das ist mir bisher noch am wenigsten gelungen.
Zum „Brunnenviertel“: Darunter wird generell der Bereich zwischen Gürtel, Thaliastraße, Haberlgasse und Ottakringerstraße verstanden – das „Yppenviertel“ würde ich eher bei der Neuerchenfelderstraße enden lassen. Tatsächlich erfasst der Prozess das Gebiet bis zum Johann-Nepomuk-Berger-Platz (Ottakringer Brauerei) sowie angrenzende Bereiche im 17. Bezirk, siehe nachstehende Karte.